Im Jahr 1944 geschah das Unfassbare: „Wir mussten flüchten”

Georg Neudorfer

gehört zur älteren Generation. Er wohnt in Passau, aber bis 2020 besaß die Familie eine Tanya neben Kiskunhalas. Er wohnte in Österreich, Deutschland und auch in den USA. Er ist aber einem sächsischen Dorf, Weilau (Ung:Vajola, Rum: Uila) in Nordsiebenbürgen (heute: Rumänien), 30 km von Bistritz/Beszterce/Bistrita geboren. Im September 1944 musste seine Familie wegen des Vorrückens der Sowjetarmee aus dem damals zum Königreich Ungarn gehörenden Dorf auf staatliche Anordnung nach Westen flüchten. Er war damals drei Jahre alt.

Wir sollten unseren Pferdewagen mit den notwendigen Sachen beladen, die für 2-3 Wochen ausreichen — erzählt er. Lebensmittel, Kleider, usw. Der ungarische Staat hat meine Eltern beruhigt, in einigen Tagen werde unsere Heimat wieder befreit sein und wir können nach Hause fahren. Das war aber nicht so.

  • Wieviel Leute gerieten so auf die Straße?

Ich war damals sehr klein, ich kann das kaum schätzen: 5-600 Leute aus dem Dorf meiner Mutter, Tekendorf, und einige hundert aus Weilau. Das war eine organisierte Flucht, aber die Straßen waren — wie ich gehört habe — auch mit anderen Flüchtlingen voll. Wir sind immer weitergefahren und in Niederösterreich wurde klar, dass es kein Zurück mehr gibt.

  • Wieviel Pferde hatten Sie?

Bei der Abfahrt nur eins, aber auf der Flucht erwarb mein Vater etwa zehn. Er war wegen seiner Krankheit vom Militär befreit, aber konte mit Pferden gut umgehen. Sie sind frei herumgelaufen oder standen einfach neben den toten Soldaten. Er hat sie zusammengekoppelt, also eingefangen, und mit Gras gefüttert.

  • Wollten die Leute nicht zurück?

Man hat es ihnen versprochen, zurückgehen zu dürfen. Dann kamen aber die Nachrichten über die Verschleppung der Rumäniendeutschen in die Sowjetunion als Kriegsverbrecher. Erst 1965 durften wir als Touristen wieder zurückkehren.

  • Und? Wie war Ihr Eindruck?

Es waren nur arme Leute dort. Die Dörfer waren zwar noch gut besetzt mit Sachsen, aber sie gehörten zu den Ärmeren.

  • Wie wurden die Flüchtlinge im Österreich der Nachkriegszeit untergebracht?

Wir sind in verschiedene Lager verteilt worden. Hier waren aber die Nationalitäten gemischt, Jugoslawen, Ungarn, Polen usw. Bis 1963 haben wir im verschiedenen oberösterreichischen Lagern gewohnt, in Familienbaracken. Das war aber keine Gefangenschaft, der arme österreichische Staat konnte uns nur zu solchen Bedingungen Fürsorge geben. Der Arbeitsplatz meiner Eltern war in der Schuhfabrik. Ich ging zur Schule aber ich war faul und lernte nicht viel. Meine Eltern waren auch nicht besonders gebildete Leute, mein Vater hatte nur die Volksschule, meine Mutter sogar nur zwei Klassen davon. Sie konnte trotzdem drei Sprachen sprechen, sächsisch, ungarisch und rumänisch.

  • Was ist eigentlich Siebenbürgisch-sächsisch?

Das war die alte, siebenbürgisch-deutsche Mundart, die in unserer Familie auch gesprochen wurde. Ich kann das noch sprechen und verstehen. Vor vier Jahren war ich in Weilau. Es gibt dort kaum noch Sachsen, aber die Zigeuner, die in die sächsischen Häuser als ehemalige Knechte eingezogen waren, hören den evangelischen Gottesdienst auf sächsisch. Deutsch verstehen sie nicht, der Pfarrer muss also diese Sprache — eigentlich Mundart — verwenden.

Wenn Musik und Wein, fühlt sich Georg nicht allein

Ein bekanntes Märchen auf siebenbürgisch-sächsisch: Rotkäppchen 

Georg Neudorfer wurde in Österreich Maurer. Bis heute hat er die halbe Welt bereist. Wenn man sich seine Erlebnisse, Abenteuer und Geschichten anhört, langweilt man sich nicht — das kann ich garantieren.

                                               Aufgezeichnet von Lajos Káposzta