Eine Geschichte vom ungarndeutschen Humoristen, Siegfried Barchfeld
Die Trolleybusfahrerin rief laut durch den Wagen: „Kérek egy helyet a kismamának!” „Ich bitte um einen Platz für die Kleinmutter”. Und die Fahrgäste wussten sofort, daß da vorne oder hinten eine Frau in guter Hoffnung oder vielleicht schon mit dem Kindchen auf dem Arm, zugestiegen war. Männer und Frauen – selbst die Alten – erhoben sich und boten der Kismama ihre Plätze an.
Ein eigenartiges Attribut der ungarischen Sprache ist nicht nur dieses Wörtchen kis (klein) für die Mütter, die manchmal überhaupt nicht klein sondern groß und sehr umfangreich sind. Ebenso komisch klingt das internationale Wort Mama, das die Ungarn sonst kaum gebrauchen oder manchmal nur im Volksmund, wenn von einer alten Mutter die Rede ist. Die ungarische Anya = Mutter, die mit so vielen entzückenden, liebenswürdigen, herzlichen Variationen angeredet wird, wie: Anyu! Anyám! Anyukám! Anyuci! usw. tritt im Zustand des Mutterwerdens oder mit einem Säugling auf dem Arm aus der finnisch-ugrischen Sprachfamilie in die indoeuropäische Sprachwelt und wird zur „Kleinmama”, der man respektvoll Platz macht, Türen öffnet, Kinderwagen in die Fahrstühle trägt… Alle Kismamas stehen besonders jetzt nach dem neuesten ungarischen Baby-Boom – es geht jetzt um die siebziger Jahre – (Anmerkung des Redakteurs) in noch höherem Ansehen, denn es muß etwas getan werden für einen starken ungarischen Familienzuwachs. Die ungarische Nation soll leben! Das Volk greift ihnen unter die Arme und der Staat in die Tasche, um zu helfen, daß es allen Kismamas besser gehe. Neben vielen Vergünstigungen und Erleichterungen für die Berufstätigen gibt es höhere Summen bei jeder Geburt, progressive höhere Kinderzulagen nach ein, zwei, drei und mehreren Kindern. Es finden auch im Fernsehen Modeschauen für die Kismamas und ihre Umstandskleider statt.
Und wenn das kleine, eben Geborene, demnächst in der Wiege schreit, und zufällig ein Mädchen ist, dann nimmt es die Kismama mit aller Mutterliebe in den Arm und beruhigt es in ihrer finnischugrischen Muttersprache mit den Worten: „Ne sirjál, kisanyám!“ „Weine nicht, meine kleine Mutter!“ Hier verrät die ungarische
Sprache wirklich ihren ureigensten Inhalt, denn in diesem kleinen Würmchen steckt heute schon die kismama von morgen und die nagymama = Großmutter von übermorgen.
(Pester Lloyd Verlag)