Geschichte eines Flurnamens bei Kiskunmajsa
Es gibt viele Ortsnamen im heutigen Ungarn, die keine Dörfer, sondern nur Fluren bezeichnen. Das waren ehemals Siedlungen, die in der Türkenzeit (1526-1686) gewaltig entvölkert wurden. Die türkischen Eroberer haben die Bevölkerung ermordet oder in die innere Türkei verschleppt und als Gefangene verkauft. Es gab nur einige, die davonkommen konnten. Nach der Türkenzeit waren diese Gebiete leer, verlassen und verödet. Dazu sagen die Ungarn das Wort „Pußta“. Kőkút ist heute also eine Pußta, in der der Wind frei weht und treiben kann, was er eben
will.
Den Namen „Kőkút“ (bei Kiskunmajsa) könnte man mit Steinbrunnen übersetzen. Wann da von wem der erste Brunnen gegraben oder gebaut wurde, liegt schon im Nebel der Geschichte. Aber später ist es auch häufiger passiert, wenn die Bauern Brunnen oder etwas anderes gegraben haben, dass sie nach einigen Metern auf Kalkstein, Sandstein oder Feldstein stießen. Nach Ausgrabungen haben die Archäologen vermerkt, dass Kőkút im Mittelalter ein Ort mit eigener Kirche war. Wann genau die Tragödie, also die Vernichtung des Dorfes durch die Türken im 16. Jh. geschehen ist, konnte bisher nicht genau ermittelt werden.
Nach dem Mittelalter lebten hier die wenigen Bewohner von der Viehzucht. Die Ursache war sehr einfach, die Türken. Sie haben die Wälder vernichtet, damit die Bauern keine Zuflucht fanden. Außerdem konnten sie ihre Festungen hier nur aus Holz und Lehm bauen. So sind riesengroße Weideflächen entstanden. Zweitens, die Türken haben auf Graurinder keine Steuer erhoben. Deshalb haben die unterdrückten, in ihrer Anzahl immer mehr schrumpfenden Ungarn diese anspruchslosen Tiere und daneben noch Zackelschafe gezüchtet. Seit dem Mittelalter war das ungarische Fleisch in Westeuropa immer gefragt und so haben die Haiducken (die Treiber) die Rinder bis nach Wien, Passau, Ulm oder sogar Nürnberg getrieben.
So haben die Türken das Siedlungssystem in diesem Gebiet, das Kleinkumanien (ung: Kiskunság) genannt wurde, völlig verändert. Die Bevölkerung flüchtete aus den Dörfern und zog in die stetig wachsenden Marktflecken wie Kiskunhalas, Szeged, Kecskemét oder Nagykőrös.
Die weit entfernt liegenden Güter hat man aus dem Marktflecken heraus nicht bewirtschaften können. Das Vieh musste im ganzen Sommer weiden und gehütet werden. So sind viele Leute, die meisten auch aus finanziellen Gründen, in die Pußta gezogen, mit den weidenden Tieren gewandert oder haben selbst Bauernhöfe gebaut. Heute noch leben relativ viele Leute in Bauernhöfen, die verstreut in der großen ungarischen Tiefebene liegen.
Die Flur Kőkút war nicht lange herrenlos. Wir wissen, dass hier ein Gasthof (ung: „csárda“) 1823 gebaut wurde. Das ist ein Beweis dafür, dass der Wirt von den hier lebenden oder die Herde treibenden Leuten leben konnte.Diese „Tscharda“ hat der Unternehmer, Mihály Sárosi, begonnen zu bauen. Die Vollendung blieb dem Baumeister Antal Bolvári vorbehalten, wie es der Auftrag von der naheliegenden Stadt Halas, beweist. Der Gasthof in der grossen Pußta wurde nicht nur von Pferdehirten, Schäfern und Bauern besucht. Die „Betyáren“ (Wegelagerer) hielten hier auch häufig ihre Treffen oder Trinkgelage ab. Sie waren arme Burschen, Hirten, die das jährliche Einkommen aus Geld- und Viehraub ergänzten. Am Westende des gewölbten Teils des bis heute erhalten gebliebenen Gasthofes befindet sich ein Blindfenster. Die mündliche Überlieferung sagt, von hier soll ein Tunnel ins Freie geführt haben, damit die Betyáren flüchten konnten. Ob es wahr ist oder nicht, weiß niemand mehr. Aber praktisch endete dieser „Fluchtweg“ oft in den Zellen vom Knast in Halas, Félegyháza oder Szeged. Der berühmteste Betyár in der Tiefebene war Sándor Rózsa, der wie der Volksmund bewahrte, auch in diesem Haus viel herumgekommen ist.
Ein konkreter Fall ist auch bekannt, am 12. 9. 1858 amüsierten sich einige kaiserliche Soldaten in einem der naheliegenden Bauernhöfe. Sándor Rózsa und seine Bande überfielen sie und erschossen drei von ihnen. Einige Jahre später gab die Stadt Halas die Verordnung aus, die besagt, dass der Betrieb in der Tscharda untersagt wurde, damit sie kein Versteck von Räubern wird.
Dieses riesige, flache Gebiet war ohne Zweifel unkontrollierbar und es kam häufig vor, dass das arme Volk Mitleid gegenüber den Betyáren hatte, mit ihnen oft gemeinsame Sache machte oder manche Informationen verschwieg, wenn die Gendarmerie Untersuchungen oder Verhöre anstellte. Diese Geschichten trugen zur Romantik jener Zeit bei. In vielen Romanen handelte es sich um arme Burschen, aussichtslose Flucht, Gefängnis, List, Glück…
Da es im frühen Kapitalismus immer mehr ums Geld ging, hatten immer mehr Investoren Interesse daran, dass diese Räuberwelt liquidiert wird. Mitte der 19. Jh. hat man in den Fluren Zsana, Eresztő und Kőkút 2500 Rinder gezüchtet. In den 1870-er Jahren wurde das Eisenbahnnetz ausgebaut. Eine Bande hat auch den Postzug angegriffen! Der politische Faktor war auch wesentlich, nach dem Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn 1867, durfte die ungarische Regierung eine eigene Polizei haben. Die Betyáren galten im neuen System und der öffentlichen Meinung nicht mehr als Patrioten. Sándor Rózsa ist ins Gefängnis geraten, und bis in die neunziger Jahre wurden auch seine letzten Kameraden/Nachfolger verhaftet. Im heutigen Gefängnismuseum in Kiskunfélegyháza können die Zellen und Folterinstrumente besichtigt werden, mit denen Regierungskomissar Gedeon Ráday damals mit eiserner Hand Ordnung machte.
Aber das einfache Volk hat lange nicht vergessen, in welchem Haus welcher Betyár eine Geliebte hatte, was sein Lieblingslied war, wie sein Pferd hieß usw. Wir hoffen, dass diese wirklich winzigen Elemente der ungarischen Geschichte auch den hier lebenden Ausländern als unterhaltsame Lektüre dienen.
Lajos Káposzta