Hungernde Zigeuner in Ungarn?

Kann man Boulevardblättern immer glauben? In der österreichischen Zeitung WANN & WO erschien vor etwa 20 Jahren eine Reportage über die schwierige Situation der Roma in Ungarn. Dieses Presseorgan hat damals die öffentliche Meinung in Österreich gestaltet. Oder MITgestaltet.

Aber wir verurteilen die Journalistenkollegen nicht. Lieber wollen wir den Fragen nachgehen, wie:
— Gibt oder gab es wirklich hungernde Zigeuner in Ungarn?
— Wenn ja, hungern dann alle Zigeuner in diesem Land?
— Wer hilft, wer bleibt unter dem niedrigsten Lebensniveau und wie sieht die Zukunft aus?
— Und darf man diese Leute Zigeuner (ung: cigány) nennen?

Eigentlich ja!

Sie nennen sich selbst „Cigány“ oder „Roma“. Aber wichtig ist, dass man das nicht beleidigend ausspricht. Zum Beispiel in einem Polizeibericht darf man nicht schreiben: „Er war ein Zigeuner“, sondern so „Er hatte eine dunkle Haut“.

Wie groß ist diese Volksgruppe eigentlich in Ungarn?

Die Zigeuner kamen im Spätmittelalter in größerer Anzahl mit den Türken in das Karpatenbecken. (Die türkische Besatzung der mittleren Landesteile dauerte von 1541 bis 1699.) Ihre Zahl kann nur geschätzt werden, Experten behaupten, dass im heutigen Ungarn etwa 500.000 bis 600.000 Zigeuner leben. Im Sinne des Gesetzes durfte bei der Volkszählung 2001 und 2011 die Frage gestellt werden, „zu welcher Volksgruppe bekennen Sie sich aufgrund von Kultur oder Tradition?“. Eine Antwort war jedoch nicht obligatorisch, und weil in Ungarn die Hautfarbe kein entscheidendes Merkmal ist (es gibt auch viele dunkelhäutige und schwarzhaarige Ungarn), kann die korrekte Zahl nur geschätzt werden. Es ist aber nicht wirklich wichtig, die Probleme sind selten sprachlich, meist sozial und einfach menschlich.

Es gibt wirklich viele arme Zigeuner…

…aber, es ist eine andere Art von Armut! Die Ausweglosigkeit, in der Zigeuner leben, kann mit Arbeitsplatzbeschaffung allein nicht beendet werden. In der heutigen hektischen kapitalistischen Welt sind wenige Zigeuner imstande dieses Tempo aufzunehmen und durchzuhalten. Ihre Lebensführung und Einstellung zur Welt sind in vielen Bereichen völlig anders als die unsrigen. Dabei entsteht aber eine Spaltung der Gesellschaft, die nur mit mehr Bildung für die Zigeuner und erhöhter Fürsorge zu beheben wäre.

Schulsystem

Wenn das Kind in einer sog. traditionellen Familie aufwächst, beginnt das erste Problem in der Schule. Häufig sprach ein sechsjähriges Kind vor 20 Jahren kaum ungarisch. Deshalb ist der Kindergarten seit etwa 10 Jahren obligatorisch. Dort lernt man ungarisch!

Eine Lösung wäre zweifellos der Unterricht auf „zigeunerisch”, aber eine solche Sprache gibt es nicht. Dialekte kann man zwar unterscheiden, aber im Wortschatz stößt man häufig auf Lücken, viele Themen und Handlungen werden mit einem sprachlichen Gemisch von ungarisch, zigeunerisch und oft auch rumänisch verbalisiert. Dieses Sprachgemisch kann aber nicht wie eine Muttersprache unterrichtet werden. Man bemüht sich, eine Hochsprache zu entwickeln — mit dem Namen Lovari —, aber zu ihrer Verbreitung fehlen noch die Fachleute. Der gemeinsame Unterricht ungarischer und zigeunerischer Kinder ist häufig problematisch. Abgesehen von eventuellen Sozialisierungsunterschieden beider Völker ist z.B. die ungarische Grammatik ein großer Problemfaktor. Die Zigeunerkinder können die grammatischen Regeln des Ungarischen nicht immer verstehen. Werden oder würden diese Kinder aber separat unterrichtet werden, treten die Rechtsschützer in Erscheinung und behaupten, dies sei rassistische Diskriminierung — womit sie teilweise auch Recht haben.

In die Gesellschaft integrieren

  • können sich Zigeuner nicht immer. Abgesehen von den sprachlichen Problemen ist das sowohl mit Vorurteilen als auch mit distanzierter Zurückhaltung auf beiden Seiten zu erklären. Bedeutende Schritte werden jedoch seit Jahrzehnten regelmäßig getan und sie zeigen in die Richtung einer „gesunden Symbiose.”

Kirche und Religion

Die Kirchengemeinden betreuen ihre Zigeunermitglieder, falls es dafür entsprechendes Personal gibt. In Soltvadkert war z.B. ein zigeunerischer Baptistenchor aktiv. Seine Mitglieder hielten jede Woche ihre Probe ab, bei der auch Bibeltexte gelesen und studiert wurden. Sie sangen christliche Lieder auf ungarisch, können aber das Vaterunser auch „in unserer alten Sprache” beten.

Pilgern nach Csatka

Der Wallfahrtsort Csatka bietet direkt für die Roma-Kirchenmitglieder die seelische Zuflucht. Die meisten Zigeuner folgen dem römisch- oder griechisch-katholischen Glauben. In Csatka ist die Sprache der heiligen Messe Lovari (zigeunerisch), aber auf Ungarisch wird vieles wiederholt erklärt. Sie übernachten dort und erleben ihre einzigartige Religion. Das ist eigentlich eine Mischung aus katholischen, asiatischen und mystischen Elementen. Das ist ihre Auffassung, die man in Ungarn prinzipiell toleriert und akzeptiert — selbst die katholische Kirche.

Beerdigung eines jungen Mannes: Abschied mit dem letzten Streicheln. In der anschließenden Predigt muss der Priester alle Abschied nehmenden Familienmitglieder namentlich erwähnen.

Zigeunermusik – auf moderner Art

Viele Ausländer hören zwischen ungarischer und zigeunerischer Volksmusik keinen Unterschied. In unserer pluralistischen Gesellschaft gelingt das selbst den Ungarn nicht immer. Pluralistisch, weil die Zigeunerjugend ungarische, und die ungarische Jugend zigeunerische Musik hört. In den letzten 10-20 Jahren erhöhte sich die Zahl der Zigeuner-Popgruppen sprunghaft. Denken wir nur an die Erfolge von „Romantic”, „Schwarze Augen von Nagyecsed” oder „Váradi Roma Café”. Die schwarze RAP-Kultur aus den USA hat darauf zweifellos großen Einfluss gehabt. Tatsache ist aber, wo diese Popgruppen ein Konzert geben, amüsieren sich Ungarn und Zigeuner gleichermaßen. Zu Zwischenfällen kommt es äußerst selten, alle gehen nur wegen der Musik dorthin. Außerdem achten die Organisatoren bei solchen Gelegenheiten mit erhöhter Aufmerksamkeit auf Ordnung.

Wo ist also die Wahrheit?

Hungernde Menschen gibt es überall in der Welt viele, zu viele! Aber von jenen, die für sich in Ungarn das tägliche Brot beschaffen können, gibt es — dank der Sozialpolitik — von Tag zu Tag immer mehr. Unter ihnen auch viele Zigeunerfamilien!

Lajos Káposzta

Wie ist der ungarische Mann?